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RICHTER IN DEUTSCHLAND
Im Namen des Volkes
TV-Shows mit Richtern boomen. Doch wie sieht der
Alltag wirklich aus? Was erwartet einen Beklagten? |
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Roger Holl (37) ist seit 1995 Amtsrichter,
seit 1999 am Spandauer Amtsgericht. Zuvor arbeitete der
gebürtige Hesse u.a. als Straf- und Verkehrsrichter. Die
Tätigkeit als Zivilrichter ist für ihn ein Traumjob: "Ich
bin mit Leib und Seele dabei.". Ca. 45-50 Stunden
Wochenarbeitszeit - allerdings frei einteilbar. Einmal
in der Woche wird verhandelt, der Rest ist Schreibtischarbeit.
Holl bearbeitet etwa 800 Fälle pro Jahr - Tendenz steigend. |
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Punkt 9 Uhr, Sitzungsbeginn. Im ersten
Stock des Amtsgerichts Spandau stehen Mietsachen, Telefonrechnungen,
ein Montagsauto, Schönheitsreparaturen auf dem Plan - ein
buntes Sammelsurium alltäglicher Streitigkeiten. Bis 12
Uhr hat Richter Roger Holl Zeit, rund 15 Entscheidungen
zu treffen.
Wer vom Bildschirm die Richterin Barbara Salesch und ihr
Show-Strafgericht kennt, wird im Amtsgericht Spandau kaum
auf seine Kosten kommen. "Eintritt ohne Aufruf"
steht an der Tür. Niemand giftet, keiner zetert und Gut
und Böse sind nicht an der Frisur zu erkennen. Wer hier
vor dem Kadi steht und was hier verhandelt wird, ist das
echte Leben der deutschen Gesellschaft. Und die erste Wahrheit
vor deutschen Gerichten lautet: Die Prozesse häufen sich.
"Es geht um Geld", sagt Holl, "immer öfter
hat man das Gefühl, dass da jemand klagt, weil er gerade
Geld braucht." Der 37-jährige Jurist leitet die Abteilung
IIIa, ist zuständig für Zivilsachen
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aller Art. Er muss entscheiden, weil zwei
Kontrahenten sich nicht einigen können. |
Teppich bekleckert: Mieter gegen Wohnungsgesellschaft |
"Meinen Sie nicht, dass Sie sich wenigstens
auf Widerruf vergleichen können?", fragt Richter Holl
den Anwalt verständnisvoll. Der windet sich, findet keine
Worte. Holl drängt: "Kommen Sie, wenn Sie's jetzt
nicht machen, dann wird das Ganze doch nichts mehr!"
Ohne Erfolg. Der Streit zwischen einem Mieter und einer
Wohnungsbaugesellschaft ging schon durch zwei Instanzen.
Jetzt beharkt man sich wegen einer Restforderung wieder
vor dem Amtsgericht. Es geht um etwas Geld und einen mit
Farbe bekleckerten Teppichboden. Der Termin scheitert schließlich
aus formalen Gründen - ein Schriftsatz ist auf dem Postweg
verloren gegangen. In ein paar Wochen wird Richter Holl
voraussichtlich den ollen Teppich begutachten müssen und
ein Urteil fällen. |
Der nächste Fall |
Ein Firmeninhaber hat eine einstweilige
Verfügung gegen die Sperrung seiner Telefonanschlüsse beantragt.
Er hatte die Rechnung gekürzt, weil dort für die Internetnutzung
trotz Flatrate noch Minutengebühren verlangt wurden. Die
Sache eilt. Würden seine Leitungen gekappt, wäre das für
die Firma eine Katastrophe. Kurz vor Verhandlungsbeginn
signalisiert die Telekom Einlenken, verzichtet auf die
Sperrung. |
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Auch die Räumungsklage für ein Einfamilienhaus
hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Vermieter und Mieter
haben sich auf Raten für die rückständige Miete verständigt.
Der Richter wirkt erleichtert: "Glück gehabt, ich
hätte den Mieter wohl zum Auszug verurteilen müssen."
Auch Richter haben offensichtlich eine menschliche Sicht
der Dinge. Doch sie müssen lernen, damit umzugehen. Holl:
"Wir dürfen aber niemals mitleiden. Genau wie Ärzte
können wir nicht jedes Schicksal an uns heranlassen." |
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Dennoch: Bei Richter Holl fühlt man sich
sofort gut aufgehoben. Er strahlt Gutmütigkeit aus, ist
humorvoll, die tiefe Stimme und die stattliche Erscheinung
unterstreichen die Souveränität eines Mannes, der das Leben
kennt. So einer erkennt Lügen, bevor sie ganz ausgesprochen
sind. "Ein Richter braucht Lebenserfahrung. Aber die
kriegt man hier im Gericht schneller, als man denkt."
Anwalt verklagt Mandant: Honorar nur
bei Erfolg?
Sehr pikant der nächste Fall. Ein Anwalt
klagt gegen seinen Mandanten, weil der ihm das Honorar
verweigert. Zunächst erscheint nur der Beklagte. "Was
war denn da los?", will Richter Holl von dem jungen
Mann wissen. "Na ja, er sollte für mich eine Forderung
über 10000 Mark eintreiben, aber das ist nichts geworden.
Ich glaube, er steckt mit dem Schuldner unter einer Decke,
weil er die Sache so lang schleifen lassen hat, bis nichts
mehr zu holen war."
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Holl schüttelt den Kopf: "Ich sehe
doch hier, dass der Anwalt das ganze Verfahren erledigt
hat. Dass da nichts zu pfänden war, ist doch eine ganz
andere Sache." Der Beklagte holt noch einmal aus:
"Außerdem hat er mich nicht laufend über seine Tätigkeit
informiert!" Richter Holl bekommt einen gequälten
Gesichtsausdruck: "Die Akte belegt doch, dass Sie
in ständigem Schriftverkehr waren! Da der Kläger aber nicht
zu kommen scheint, weise ich Sie jetzt darauf hin, dass
Sie ein Versäumnisurteil beantragen können. Ich würde die
Klage dann abweisen - allerdings kann der Kläger innerhalb
von 14 Tagen nach Zustellung dagegen Widerspruch einlegen." |
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15 Minuten entscheiden über Sieg und
Niederlag
Der junge Mann nickt. Richter Holl schaut
zur Uhr über der Tür: "Wir müssen jetzt eine Viertelstunde
auf den Kläger warten. Wenn er dann nicht da ist, bekommen
Sie das Versäumnisurteil." Der junge Mann setzt sich
auf die Zuschauerbank, rutscht nervös hin und her und sieht
immer wieder zur Uhr hoch. Die Viertelstunde ist seine
Chance, den wenig aussichtsreichen Prozess doch zu gewinnen.
Der Zeiger rückt vor. Fast hat er es geschafft, da geht
buchstäblich in letzter Minute die Tür auf. "Rechtsanwalt
Meier?", fragt Holl. "Ja - entschuldigen Sie
bitte, ich stand im Stau." "Jetzt kann es ja
losgehen", kontert der Richter, "ich nehme an,
sie bleiben bei Ihrem Antrag, Herr Meier?" Der Anwalt
nickt. Holl wendet sich wieder dem Beklagten zu. "Sehen
Sie, Sie müssten durch den Rechtsanwalt einen Schaden erlitten
haben - nur dann könnten Sie der Honorarrechnung Ihre Schadenersatzforderung
entgegenhalten. Aber erstens haben Sie nichts in der Richtung
beantragt, zweitens kann ich auch keinen Schaden erkennen.
Dass bei Ihrem Schuldner nichts zu holen war, dafür kann
der Rechtsanwalt nichts", erklärt er freundlich, aber
mit leicht beschwörendem Ton. "Hatten Sie denn einen
Schaden?", fragt Holl noch einmal. "Eigentlich
nicht, außer..." Er bricht ab, scheint zu begreifen,
dass er auf dem falschen Dampfer war.
"Sie haben jetzt immerhin noch die Möglichkeit, die
Klage anzuerkennen. Das kostet weniger, als wenn ich durch
ein Urteil entscheiden muss." Holls sanfte Überredungskunst
wirkt. Der Beklagte schaut zu seinem ehemaligen Anwalt
hinüber: "Okay, ich zahle!"
"Isse totaler Schrott, die Auto", faucht der
italienische Kläger - er will die Karre endgültig loswerden.
Auf der Gegenseite stehen der Anwalt des Autohauses und
der Rechtsvertreter der Garantieversicherung. Es geht um
Reparaturkosten vom letzten Jahr. Wie sich herausstellt,
ist der Wagen inzwischen völlig demoliert - das elektronische
Getriebe hat vor ein paar Tagen versagt, der südländische
Heißsporn ist vor Schreck auf einen anderen Wagen aufgefahren.
Jetzt steht das Auto bei einem anderen Autohaus zur Reparatur.
Holl sucht den sanften Weg: "Sie wollen ohnehin ein
anderes Auto kaufen?", fragt er den Kläger. Der nickt
interessiert. "Wenn der Herr S. jetzt bei Ihrer Mandantschaft
einen neuen Wagen kaufen würde, und das Montagsauto großzügig
in Zahlung genommen werden könnte, wäre das doch eine Lösung
für alle Beteiligten. Schauen Sie doch mal, ob Sie den
Wagen aus der anderen Werkstatt herausbekommen, bevor dort
Kosten entstehen", schlägt Holl vor. Der Anwalt gibt
sich aufgeschlossen, das Eis ist gebrochen. Jetzt verabreden
sich Kläger und Anwälte, gleich im Anschluss zur Werkstatt
zu fahren - Fall vorerst erledigt.
Inzwischen ist es kurz vor 12 Uhr, Holl
schlüpft aus seiner Robe. Darunter trägt er ein dunkles
Leinensakko, zu dem der weiße Seidenschlips nicht so recht
passen mag. "Dienstkleidung", sagt er und wedelt
mit der Krawatte, "Längsbinder heißt das in der Dienstvorschrift.
Wir dürfen aber auch Querbinder tragen", scherzt er.
Ein schönes Gefühl, dass Richter lockerer und menschlicher
sind als ihre Dienstvorschriften. |
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Die Robe kann ich wenigstens von der
Steuer absetzen
Wie fühlt man sich in so einer Robe, Sinnbild
von unangreifbarer Macht? Holl grinst. "Die Robe gibt
mir gar nichts - außer dass ich damals fast 500 Mark für
das Ding bezahlen musste. Ist noch meine erste. Viel Geld
für einen Berufsanfänger. Aber wenigstens kann man sie
bei der Steuer absetzen. Das Finanzamt sieht anstandslos
ein, dass ich damit nicht zum Joggen gehe."
Noch einmal öffnet sich die Tür, zwei Damen mittleren Alters
schauen herein. "Wird jetzt die Sache Wald verhandelt?",
fragt eine. Holl schüttelt den Kopf. "Ich muss Sie
enttäuschen, da passiert jetzt nichts mehr. Das wird nur
noch verkündet." "Dass will ich aber hören!",
kontert die erste resolut und steuert, ihre Begleiterin
im Schlepptau, forsch die Zuschauerbank an. Beide schauen
drein, als seien sie kurz davor, |
eigenhändig die Römer aus Germanien zu
verjagen. Holl schlüpft noch einmal in seine Robe und greift
zur Akte. "Also, die Sache Wald - da habe ich entschieden,
dass entfernt werden muss." "Beides!?",
unterbricht die Jüngere triumphierend. Holl lässt sich
nichts anmerken. "Ja, beides." Triumphierend
springen die beiden Damen auf, verschwinden blitzschnell.
Holl wirkt genervt. "Streit in der
Kleingartenkolonie. Da hat einer etwas zu viel angebaut.
Okay, das verstößt gegen die Kleingartenordnung. Ich musste
jetzt entscheiden, dass er abreißen muss. Aber dass Unbeteiligte
daherkommen und jetzt mit dem Urteil hausieren gehen?"
Holl schüttelt den Kopf. "Feierabend für heute!"
Er meint den Gerichtssaal. In seinem Büro wartet ein Aktenstapel,
das Pensum für den Nachmittag. Etwa 40 Verfahren wollen
jetzt noch auf den neuesten Stand gebracht werden. Die
so genannte Dezernatsarbeit ist für viele Richter der reine
Horror. "Formal hat ein Richter keine festen Dienstzeiten
- aber um die Akten kommt er nicht herum." Selten
hat die Woche unter 45 Stunden, an den Wochenenden und
abends muss vor- und nachbereitet werden. Urteile schreibt
er am liebsten zu Hause - mit Abstand vom hektischen Gerichtsalltag.
Da ist so ein armer Tropf, aber es gibt
immer zwei Seiten
Akten erzählen das Leben. "Da hat
einer seine Gasrechnung nicht bezahlt." Holl lässt
dreieinhalb Zentimeter Papier am Daumen entlanggleiten.
Rechnungskopien, Mahnungen, Einschreibenbelege lassen ahnen,
dass der Berliner Gasversorger schon sehr lang auf sein
Geld wartet. Beim Blättern blitzt kugelschreiberblaue Handschrift
auf: die Klageerwiderung. Mühsame Schönschrift, der säumige
Zahler hat keinen Anwalt. Wie auch, wenn das Geld nicht
fürs Gas reicht? Hat ein Richter Mitleid? Kopfschütteln.
"Da ist oft so ein armer Tropf auf der einen Seite
- aber man kann nicht einen isoliert herausnehmen. Man
muss beide Seiten sehen. Das wirklich Traurige ist, dass
manche Leute ihr Leben nicht in den Griff bekommen. Sie
machen ihre Post nicht auf, stecken den Kopf in den Sand
und ignorieren alle Mahnungen. Dabei lässt sich vieles
vermeiden: Wenn einer seine Wohnung oder die Stromrechnung
nicht mehr zahlen kann, kann er zum Sozialamt gehen und
die Räumung verhindern." Sagt's, packt seine Akten
ein und geht zur Bushaltestelle. "Bin gespannt, was
unser Julian wieder ausgefressen hat." Der Dreijährige
hat ein langes "Sündenregister" in seiner Kita.
Da ist der Richter machtlos.
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So funktioniert ein Zivilverfahren
Gerichte
Für Streitigkeiten zwischen Privat- oder Geschäftsleuten
sind die so genannten ordentlichen Gerichte zuständig:
In erster Instanz Amtsgericht (Streitwert bis 5000 Euro)
und Landgericht (ab 5000 Euro), in den höheren Instanzen
dann die Oberlandesgerichte und der Bundesgerichtshof.
Im Gegensatz z.B. zu Strafprozessen ermittelt das Gericht
im Zivilverfahren nicht von sich aus. Die Parteien müssen
im Prozess ihre rechtlichen Standpunkte selbst darlegen
und die entsprechenden Beweise beibringen.
Verfahren
Wer eine Klage erheben will, muss zunächst eine Klageschrift
beim Gericht einreichen und einen Kostenvorschuss leisten.
Erst wenn das Geld eingezahlt ist, leitet das Gericht die
Klageschrift an den Beklagten weiter und fordert ihn auf,
innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen - die
so genannte Klageerwiderung. Je nach Sachverhalt entscheidet
das Gericht dann, ob ein früher Verhandlungstermin angesetzt
wird oder ob in einem schriftlichen Vorverfahren weitere
Standpunkte erörtert werden müssen.
Güteverfahren
Die Gesetze einiger Bundesländer schreiben inzwischen vor,
dass bei Streitwerten bis 750 Euro eine außergerichtliche
Streitschlichtung stattfinden muss - erst wenn diese gescheitert
ist, steht der Weg zum Gericht offen. Aber auch die Zivilprozessordnung
schreibt inzwischen eine dem Prozess vorgeschaltete Güterverhandlung
vor - hier geht es darum, Einigung zu erzielen und eine
streitige Entscheidung (Urteil) zu vermeiden. Dies soll
in erster Linie die Gerichte entlasten.
Abläufe
Normalerweise finden die Verfahren in einer sehr ruhigen,
konzentrierten Atmosphäre statt. Nicht alle Prozesse werden
durch Urteil entschieden: Vergleiche, bei denen sich die
streitenden Parteien "in der Mitte treffen",
oder die Anerkenntnis der Klage durch den Beklagten kommen
häufig vor - das spart Gerichtskosten.
Prozesskosten
Wer den Prozess verliert, trägt alle Kosten - auch die
Anwaltskosten des Gegners. Bei Vergleich teilt das Gericht
die Kosten auf.
Autor: Thilo Ries |
© 2003 Guter
Rat |
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