"Donnerstag, 18.08.2005"

Der Fall:

Ilse soll ihren Sohn Rico sechs Tage und sechs Nächte in einen fensterlosen Kellerraum eingeschlossen haben um ihn zum Lernen zu zwingen. Wollte sie dafür sorgen, dass er die letztmögliche Nachprüfung zum Malergesellen besteht?

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Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Draußen schien die Sonne, Vögel sangen. Doch Ilse Hoffmann war nervös. So nervös das der ganze herrliche Sonnentag und der Vogelgesang auf der ganzen weiten Welt sie hätte aufheitern können. Die Prüfungsergebnisse ihres Sohnes müssten bald kommen. Rico hatte die erste Prüfung zum Malergesellen gründlich vergeigt. Was die zweite Prüfung anging so wollte er ihr gar nichts davon erzählen. Er war ungefähr genauso aussagefreudig wie ein Hauptverdächtiger im Kreuzverhör. "Wie ist es denn gelaufen, Junge" Achselzucken. "Du musst doch irgendein Gefühl haben, irgendeine Ahnung...." Augenverdrehen. So sehr sie ihn mit Fragen bestürmte Rico verweigerte jede Auskunft. Das Gespräch endete meist damit, das ihr Freund Frank sich zornig einmengte und dann war alles vorüber. Es klingelte. Das war die Post. Mit zittrigen Fingern ging sie die Umschläge durch. Da war er ja der Brief. Ilse starrte den Brief minutenlang an, als würde der gleich Feuer fangen oder explodieren. Dann mit heftigen Gewissensbissen riss sie den Brief auf. Sonst würde sie nie erfahren was drin stand. Das durfte doch nicht wahr sein..... nicht bestanden..... Sie sank in sich zusammen. Ausgerechnet in diesen höchst ungünstigen Moment trafen Rico und Frank ein. Aus verschiedenen Richtungen trafen sie zusammen ein. Sie wollte keinen Streit provozieren, aber sie musste mit Rico sprechen. Jetzt! Anklagend sah sie ihren Sohn an "Was glaubst du was hier drin steht?" Der zuckte vor dem Brief zurück wie ein Vampir vor Sonnenlicht. "Was soll da schon drin stehen" maulte er "außerdem was geht dich meine Post..." Das war der Aufhänger für Frank. "Antworte gefälligst anständig Bursche" brüllte der direkt los, so als befände sich Rico am Ende eines Fußballfeldes und ihn nicht unmittelbar gegenüber. Trotzig erwiderte Rico, dass Frank ja gern seine Soldaten auf dem Übungsplatz so anschreien könne und nicht ihn. Wahrscheinlich leiden die alle an fortschreitender Taubheit, dachte Rico böse, oder warum kann der nicht anständig mit mir reden. Wütend fuchtelte er mit dem Brief vor Ricos Nase herum. "Durchgefallen, na klar, was kann man auch anderes bei dir erwarten. So ein fauler nichtsnutziger....." Den Rest des Gespräches ersparte sich Rico in dem er einfach fortging. Außerdem hätte er Frank auch mühelos verstehen können, falls der sich in einen anderen Bundesland befunden hätte. Er konnte ihn schreien hören... "Das kommt alles daher dass Du ihn nicht ordentlich mal an die Kandarre nimmst Ilse. Der braucht.... Er versuchte Franks Gerede auszuschalten indem er laut Musik anstellte, aber Schlagwörter wie "Disziplin" "Faulheit, schlappe Erziehung" drangen trotzdem durch. Rico biss sich auf die Lippen und es stieg ihm heiß ins Gesicht. Denn er war weder faul noch gleichgültig. Er hatte nur ein kleines Geheimnis, was er noch nicht mal seiner Mutter anvertraute. Er konnte kaum lesen.

Da Ricos Mutter das nicht wusste, konnte sie sich nicht erklären warum ihr Sohn niemals zusammen mit ihr lernen wollte. Und Frank das anvertrauen? Im Leben nicht, er konnte sich ausmalen, was DER dann zu ihm sagen würde "Junge, du kannst was nicht??? Ich wusste ja gar nicht das du so dumm bist." Dabei gab es einen Namen für seine Probleme. Legasthenie und die hatte auch gar nichts mit Minderbegabung oder Dummheit zu tun. Die Leseschwäche hat was damit zu tun, dass das Gehirn gesehene und gehörte Informationen nicht richtig verarbeiten kann. Und da Rico sich niemanden anvertraute, blieb alles beim alten. Er hielt sich für dumm und seine Mutter verzweifelte an seiner angeblichen Faulheit. Und Frank sein "Stiefvater" setzte seiner Mutter mächtig zu "sich doch mal endlich durchzusetzen." Das unter diesen Voraussetzungen es nicht zu einen normalen Gespräch kommen kann, leuchtet wohl jedem ein. Im verzweifelten Versuch Frank zu beweisen, das sie sich durchsetzen konnte und Rico endlich zum Lernen zu bewegen hielt sie ihm seine Bücher unter die Nase. Sie bettelte und flehte, dass er sich endlich auf seinen Hosenboden setzen sollte und lernen sollte, sie schrie ihn bis sie ganz heiser war. Aber nichts schlug an. Der Bursche ging einfach zu seiner Freundin und amüsierte sich. Sie versuchte über Nina an Rico ranzukommen, indem sie Nina einen Job in der Metzgerei beschaffte. Aber die war kaum paar Stunden da gewesen, da verschwand sie einfach und ließ sie da alleine sitzen. Immer mehr musste sie an Ricos Vater denken. Der wollte auch nie einen Handschlag tun. Und dann saß der nur noch zu Hause. Sie musste daran denken, wie der nur auf der Couch gesessen hatte und plötzlich nahm ihr Ex-Mann Ricos Züge an. Sie konnte sich das alles gut vorstellen. Rico würde die dritte Prüfung auch nicht bestehen, er würde Nina heiraten, die war dann genauso wie er. Die würde dann auf seine Kosten leben wollen, bloß das Rico gar keine Stelle hatte, weil er ja die letzte Chance, die letztmögliche Prüfung vergeigt hatte. Ihr wurde richtig übel bei dem Gedanken. Sie liebte ihren Sohn und dumm war Rico doch auch nicht. Er musste und würde diese Prüfung bestehen. Die Zeit verging so rasch, bald würde er die Prüfung wiederholen und dann......

Ilse ahnte nicht, daß ihr Sohn sich die selben Sorgen machte. Rico lag auf dem Bett und starrte die Bücher hinter sich an, die er niemals lesen würde können. Daneben lag seine Lesebrille. Dieses dumme Ding, dabei waren seine Augen spitze. Er hatte nur mehrfach behauptet, er könne nicht lesen, weil seine Augen zu schlecht waren. Und wenn er draußen war, "vergaß" er grundsätzlich seine Brille und dann konnte er fragen, wenn er was lesen musste. Die Zahl der Ausreden war lang und lies durchaus Cleverness entdecken. Sich jahrelang durchschummeln ohne lesen zu können erfordert auch Intelligenz. Wenn seine Mutter nur nicht immer ihn mit seinen Vater vergleichen wollte. Er fühlte sich unter Druck gesetzt und der Druck wurde immer größer, vor allem wenn Frank polterte und schrie und "ihn zeigen wollte, wo der Hase läuft". Er starrte die Bücher an, aber er konnte einfach nichts damit anfangen. Es wäre schön, wenn er wie jeder andere auch lesen könnte, er war sicher, dass es toll sein musste. Der Druck der auf ihn lastete, gerade jetzt vor der letztmöglichen Prüfung war geradezu unerträglich. Er musste sich ablenken. Er verabredete sich mit Nina um halb sieben zum Kino. Bis dahin konnte noch ein bisschen dösen. Niedergeschlagen schloss er die Augen. Wach wurde er als er einen seltsamen Geruch vor der Nase hatte und etwas feuchtes auf seinen Mund gelegt wurde. Er hatte kaum Zeit darüber sich darüber zu erschrecken oder gar darüber nachzudenken, denn er verlor das Bewusstsein.

Als er aufwachte, dachte er das müsse ein schlechter Traum sein. Als die Übelkeit verging und er sich wieder orientieren konnte, sah er dass er in dem fensterlosen Kellerraum war, der zum Bad umgearbeitet werden sollte. Das musste ein schlechter Witz sein. So was geschah in Krimis und doch nicht ihm. Und die Tür war auch verschlossen. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel und die Bücher, die er für die Ausbildung bekommen hatte. Fassungslos nahm er den Zettel und versuchte mühselig zu entziffern was darauf stand. Auf der anderen Seite der Tür war seine Mutter, mit einen mächtig schlechten Gewissen, hoffentlich hatte ihr Sohn das mit dem Chloroform gut verkraftet. Aber wenn er nicht lernen wollte, dann musste man ihn eben dazu zwingen. Außerdem hatte sie ihm ja auf dem Zettel geschrieben, dass er wieder frei sein würde, wenn er alle Aufgaben gemacht hatte, aber richtig bitte schön!!!!!!!!!!! Sie hatte sich nämlich die Mühe gemacht, die Prüfungsaufgaben alle abzuschreiben und die würde er eben auf diese zugegebenermaßen doch recht radikale Art lernen müssen. Es verging der erste Tag, der zweite, der dritte. Sie wartete inbrünstig darauf dass Rico endlich seine Aufgaben machen würde, aber nichts geschah. Wenn Frank nach ihn fragte, antwortete sie Rico würde in seinen Räumen lernen. "Endlich hast du dich bei ihm durchgesetzt" knurrte der wohl und war's zufrieden. Sie hatte sogar an dem Abend, an dem sie Rico eingesperrt hatte, alle Uhren auf sechs Uhr umgestellt, damit wenn Frank kam bezeugen konnte, dass sie Rico ja gar nicht eingeschlossen haben konnte, weil er bei ihr gewesen war. Der hatte zwar mächtig verdutzt ausgesehen, weil er ja eine ganz andere Uhrzeit hatte, aber Gott sei Dank war das gutgegangen. Sie beruhigte ihr schlechtes Gewissen damit, dass sie hingebungsvoll alle Lieblingsspeisen ihres Sohnes kochte. Aber die Tage vergingen und Nächte kamen ohne ein Zeichen auf Verbesserung oder gar die beantworteten Prüfungsfragen. Wie kann man nur so stur sein, dachte sie erbost.

Nina war derweilen außer sich vor Sorge. Als Rico nicht zum Kino erschienen war, war sie schon beunruhigt gewesen. Das passte so gar nicht zu ihm. Jetzt waren schon sechs Tage vergangen und kein Zeichen von ihm. Sie beschloss Rico zu Hause zu besuchen und später sollte sie sehr froh sein auf ihr Bauchgefühl gehört zu haben.


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